Ausbruch aus dem Alltag

Unser Texter wagt die Flucht nach Innen – und geht für 6 Wochen ins Meditationscenter. Was er da erlebt hat? Das liest du hier.

Der Wecker klingelt. Ich stehe auf, meditiere, trinke Kaffee und starre die nächsten acht Stunden auf ein Display. Büroarbeit nennt man das. Danach Abendbrot, Netflix, Nachtruhe – und wieder von vorne. Willkommen in meinem Hamsterrad! Herrlich, oder? So könnte ich für immer… ach, was mache ich mir vor? Ich habe die Nase voll. Ich brauche einen Tapetenwechsel. Also wage ich den Ausbruch – und gehe für sechs Wochen in ein Meditationscenter.

Willkommen im Allgäu

Die Flucht verläuft reibungslos. Wie sich herausstellt, bin ich nicht nur Gefangener, sondern auch Aufseher. Das sagt einem nur keiner. Das Fluchtfahrzeug meiner Wahl ist ein ICE von Berlin nach München. Von dort geht’s auf eine einsame Alm im Allgäu. Hier will ich mich anderen Fragen stellen als Welche Deadlines stehen diese Woche an? und Wo ist diese verdammte Datei?

Angekommen in der Meditationshalle, setze ich mich auf ein Kissen neben dem Altar mit der Buddhastatue. Jemand gongt sanft eine Klangschale. Ihr Ton verklingt und schmilzt allmählich in die Stille des Raums. Durchatmen. Entspannen. Keine Anrufe, keine E-Mails, keine Workshops. Nur ich und mein Bewusstsein. Endlich abschalten. Es könnte so schön sein – wäre da nicht diese ständige Denkerei.

Die Sache mit dem Denken

Das Erste, was ich beim Meditieren lerne: In meinem Kopf wohnt ein Affe, der unaufhörlich Gedanken um sich schleudert. Das Zweite: Meine Gedankenmuster aus dem Alltag sind mit aufs Retreat gekommen. Wie nett von ihnen! Sie scheinen an mir festzukleben. Oder klebe ich an ihnen fest?

Hier liegt die Crux – für uns alle. Unsere Gedankenmuster färben unsere Wahrnehmung des Lebens. Wir sehen die Welt nicht, wie sie ist, sondern wie wir sind. Wir stülpen der Welt unsere Vorstellungen über und ärgern uns, wenn die Welt ihnen nicht entspricht. Das ist irgendwie lustig und irgendwo traurig. Wir merken es nicht mal.

Ich bin voller Erwartungen an die kommenden Wochen. Ich will in tiefe Meditation versinken, mich in Dopamin baden, das Leben verstehen und furchtbar weise werden. Na, wenn’s weiter nichts ist, wa? In Wirklichkeit ist es eher so, als würde ich einen Stall ausmisten. Ich gewinne nichts dazu, werde aber jede Menge los.

Der Tierarzt mit den Invasionsplänen

Natürlich meditiere ich nicht den ganzen Tag. Am Vormittag arbeite ich. Gemüse schnippeln, Flur saugen, Schafstall bauen, Kartoffeln pflanzen. Viel Körperarbeit, wenig Kopfarbeit. Eine willkommene Abwechslung für jemanden wie mich. Nur das eine Mal – da wird‘s erst herzergreifend und dann bizarr.

Herzergreifend, weil eines der Schafe krank ist. Seine Augen sind mit Eiter verklebt, das Tier ist fast erblindet. Also rufen wir den Tierarzt – ein alter Herr mit grauem Haar und mehr Falten als Gesicht. Ich, seelig und durchmeditiert, begrüße ihn und bemerke nach kurzer Zeit, dass der Mann sehr gerne redet. Äußerlich höre ich geduldig zu, während ich innerlich aufstöhne.

Bevor ich mich versehe, schildert er mir, wie Putin mit der Armee in die Türkei einfallen könnte, um dort mal „richtig aufzuräumen.“ Aha, denke ich. In seinem Kopf wohnt also auch ein Affe, der mit Gedanken um sich wirft. Ich seufze erleichtert, als der Tierarzt seinen Koffer packt und wieder losfährt.

Gleicher Hamster, anderes Rad?

Die ersten zwei Wochen sind pure Erholung. Die Seele atmet auf, der Verstand kommt zur Ruhe. In der dritten Woche schleicht sich die Langweile ein. Waren das nicht aufregende Zeiten, als ich noch Deadlines hinterherjagte? Ich ertappe mich bei diesem Gedanken und nicke dem Affen anerkennend zu. Beinahe hätte er mich erwischt.

Für mich Stadt- und Büromenschen dauert es eine Zeit, bis ich mich an die ruhige Gleichförmigkeit der Tage gewöhne. Alles ist so… einfach. So unkompliziert. Anfangs ist das schwer zu ertragen. Nur langsam lässt der Geist von seiner angespannten Zielstrebigkeit ab und macht Raum für Entspannung. Ich bin erstaunt. Um sich friedlich zu fühlen, muss man nichts erreichen. Man muss nur loslassen. Das ist das revolutionäre und simple Geheimnis.

Willkommen zurück

Nach sechs Wochen verlasse ich die Stille mit einem lachendem und einem weinenden Auge. Ich freue mich, Freunde und Familie wiederzusehen. Ich freue mich sogar darauf, wieder mit dem Kopf zu arbeiten. Mir wird klar: Wenn ich in ständiger Bewegung lebe, sehne ich mich nach Stille. Wenn ich in ständiger Stille lebe, sehne ich mich nach Bewegung.

Ich lache laut. Ist das nicht ein wunderbarer Tanz, den wir auf der Bühne des Lebens aufführen? Wir weinen bittere Tränen, lachen von ganzem Herzen und machen uns das Leben furchtbar kompliziert. Dabei kann es so einfach sein. Durchatmen. Entspannen. Loslassen. Als ich Zuhause bin, erscheint mir selbst mein Hamsterrad nicht mehr so übel. Mal sehen, wie lange ich es dieses Mal aushalte. Der nächste Ausbruch kommt bestimmt.

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